Das prophetisch-astrologische Schrifttum der Frühen Neuzeit
Im 15. und 16. Jahrhundert florierte das astrologisch-prophetische Schrifttum geradezu, nahm Einfluss auf das alltägliche Leben, aber auch auf Politik, Religion und Wissenschaft: Sogenannte ,Lasstafeln‘, Ein- oder Mehrblattdrucke, verrieten unter Angabe der Neu- und Vollmonde günstige Termine für medizinische Behandlungen, insbesondere den Aderlass, aber auch für landwirtschaftliche Tätigkeiten wie Aussaaten. Die zu ihnen ursprünglich als Ergänzung gedachten ‚Praktiken‘ oder ,Prognostiken‘ machten hingegen die Gestirnkonstellation zu Jahresbeginn oder im Jahresverlauf zum Ausgangspunkt ihrer Vorhersagen und etablierten sich schließlich als eigenständige Gattung. Sie gaben vornehmlich Auskünfte über Witterungsbedingungen und Ernteaussichten, aber auch zu Krankheiten, Unglücksfällen oder nahenden Katastrophen. Hinzu kamen sog. ‚Weissagungen‘, die den Praktiken sehr ähnlich waren, aber auf Visionen oder Träumen beruhten (Abb. 1).[1]
Das Angebot dieser astrologisch-prophetischen Schriften wuchs stetig und die darin getroffenen Vorhersagen wurden immer ausschweifender, wodurch wahrscheinlich die Verkaufszahlen angekurbelt werden sollten. Als Antwort darauf entwickelten sich parodistische Versionen der Lasstafeln, Praktiken und Weissagungen, die ebendieses Vorgehen spielerisch aufs Korn nahmen. Sie sagten beispielsweise ganz Alltägliches vorher, verlegten sich auf pompöse Ankündigungen zum Auf- und Untergehen der Sonne, zum Wachstum der Pflanzen in den verschiedenen Jahreszeiten, zum Fingernägelschneiden o. Ä. Dabei hinterfragten sie jedoch nie die Astrologie selbst, sondern nur deren Umsetzung und Vermarktung.[2] In äußerer Form, sprachlicher und inhaltlicher Gestaltung, sogar in Aufbau und Struktur waren diese Parodien[3] den ernsthaften Vorlagen sehr ähnlich und wurden sogar häufig genau wie diese bezeichnet. Mindestens eine Abweichung von den Vorlagen kennzeichnete sie jedoch als parodierende Versionen.[4] Diese Abweichungen konnten sich etwa in Form von sinnverzerrender Groteskensprache, Anspielungen auf die Sphären des Närrischen oder der ‚verkehrten Welt‘, aber auch durch absurde Gewichts- und Maßangaben oder irritierende Platzierungen von Tiernamen und -verweisen manifestieren.[5]
Text und Bild: Die Titelseiten als Aushängeschilder
Meist war so bereits auf den Titelseiten der Werke erkennbar, ob es sich bei ihnen um ernsthafte oder parodierende Vorhersagen handelte. Dies wurde durch die Titelholzschnitte noch verstärkt: Statt Gelehrten, Darstellungen von vorhergesagten Katastrophen oder von Allegorien der Planeten, die im kommenden Jahr besonderen Einfluss haben sollten (sog.‚Jahresregenten‘), zierten bei den Parodien Narren, absurde (beispielsweise eben grade nicht katastrophische) Szenarien oder Lasterplaneten die Titelseiten.
Während die Bilder häufig die Stoßrichtung des Textes fortsetzten ‒ der etwa durch Verzerrung vom Namen des Verfassers die Gelehrsamkeit desselben untergrub, was sich in der bildlichen Darstellung eines Narren spiegeln konnte ‒, konnten sie zugleich eigene Botschaften transportieren und so diejenigen der Texte ergänzend ausdifferenzieren. Gerade die komplexe Kopplung von Text und Bild ließ Irritationsmomente zutage treten, die ein zusätzlich ironisierendes, da sich selbst unterminierendes, Potenzial eröffnen. So lohnt es sich durchaus, die Titelseiten des astrologisch-prophetischen Schrifttums und seiner Parodien genauer in den Blick zu nehmen: Nicht nur galten die Titelseiten als Aushängeschilder der Schriften, sollten zum Kauf anregen und waren daher mit Informationen nur so gespickt ‒ im Fall der Parodien mit Falschinformationen ‒; auch enthielten sie explizite Leseempfehlungen.
Anhand der Titelseite der Practica vber die grossen und ma-//nigfeltigen Coniunction der Planeten von Leonhard Reymann von 1523 (Abb. 2) lässt sich deutlich erkennen, dass es sich bei dieser Schrift um eine ernsthafte Praktik handelt.
Tatsächlich reagiert Reymanns Praktik auf die Prophezeiung einer großen Sintflut als Folge einer Konjunktion aller Planeten im Zeichen der Fische, die der Astrologe Johannes Stöffler (1452‒1531) im Jahr 1499 für das Jahr 1524 vorausgesagt hatte. Diese sollte nicht nur mit furchtbaren Überschwemmungen, Krankheiten und Hungersnot einhergehen, sondern zugleich mit Zwietracht zwischen den weltlichen und geistlichen Oberhäuptern.[6] Während der Titelholzschnitt die drohende Sintflut durch den großen Fisch verbildlicht, in dessen Körper sich ein toter Mensch sowie die Gestirne befinden und aus dessen Leib sich Wasser auf die Erde ergießt, ist auch die Feindseligkeit zwischen den Menschen durch die bildliche Komposition eingefangen: Links von der Flut steht eine Bauernschar mit allerlei zu Waffen umfunktioniertem Arbeitsgerät, angeführt von Saturn; rechts abgebildet sind König, Papst und geistliche Würdenträger. Auch der Titel der Praktik greift die prophezeite Sintflut aufgrund der Planetenkonjunktion auf. Text und Bild, so lässt diese Titelseite offenkundig erkennen, stehen in direktem Zusammenhang und beziehen sich auf ein konkretes vorhergesagtes Ereignis, das die Praktik weiter erläutert.
Genuine Praktikparodien
Demgegenüber geben die Titelseiten von Praktikparodien, die sich in zwei Kategorien einteilen und grob der ersten und zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zuordnen lassen,[7] ihren ironischen Unterton häufig bereits zu erkennen. Die zuerst entstandenen sog. ‚genuinen Praktikparodien‘ orientierten sich in Aufbau, Struktur und inhaltlicher Gestaltung stark an den ernsthaften Vorlagen und verfremdeten lediglich einzelne Elemente daraus. Dies zeigt etwa die Practika Teutsch. // gemacht durch Eselberti trinckgern von 1526.
Bereits der Titeltext verrät, dass es sich bei dem Werk, das von einem gewissen Eselberti trinckgern verfasst wurde, um eine Parodie handeln muss. Denn während die Nennung eines Verfassers durchaus üblich ist, ja der Haupttitel (Practica Teutsch) sich nicht einmal von denjenigen ernsthafter Praktiken unterscheidet, wird doch in letzteren stets auf die Qualifizierungen desselben hingewiesen: So nennt sich der Verfasser der Practica deutsch von 1523 Meister Hans Virdung. Demgegenüber übernimmt der Verfasser der Practica Teutsch von 1526 vornehmlich die dem Esel nachgesagte Dummheit sowie die Vorliebe zum Alkoholgenuss, die er sich in seinen Namen einschreibt, wodurch das Konzept der Autorinszenierung spielerisch unterlaufen, ja ad absurdum geführt wird. Nicht nur verweist der Verfasser ‚Eselbert‘ mit dem Titel seiner Parodie auf bereits existierende Praktiken, reiht sich somit in ihren Reigen ein, vielmehr suggeriert er mit seinem selbstgewählten Namen ‒ nämlich dem eines dummen Trunkenbolds ‒, dass wohl auch die anderen Verfasser nicht zwingend gebildeter als er sein müssen, selbst wenn sie sich ‚Meister‘ nennen.
Der Titelholzschnitt bestätigt diesen Eindruck: Dargestellt werden Personifikationen von Justicia und Potentia. Während Justicia, die eigentlich für Gerechtigkeit sorgen sollte, faul am Boden liegt, ‚herrscht‘ Potentia, indem sie sich die Augen zuhält. Im Land um sie wütet das Chaos: Plünderungen, brennende Häuser, ja sogar Mord sind auf den Hügeln um sie herum zu erkennen. Die Planetenallegorien, die häufig auf den Titelseiten der Praktiken zu finden sind, hat diese Parodie also durch personifizierte Laster ersetzt.
Sowohl Titelformulierung als auch Holzschnitt zeigen damit eindeutig subversive Verfremdungsmomente, die grob in eine Kerbe schlagen: Bloßgestellt wird durch den grotesken Namen Eselberti trinkgern die übertrieben hervorgehobene Gelehrsamkeit der Verfasser, die sich, so wird suggeriert, häufig eher als Dummheit und Trinksucht herausstellt. Auch der Holzschnitt lässt Laster ‒ oder vielmehr die Negativzeichnung der Tugenden ‒ in den Vordergrund rücken, die als schlechte ‚Jahresregenten‘ das folgende Jahr prägen sollen und damit wiederum ein Element aus den Holzschnitten der Praktiken unterminieren. Text und Bild, so zeigt sich hier, treten indes nur auf der Ebene der Verfremdung in Kontakt, indem beide Elemente aus den ernsthaften Praktiken aufgreifen und spielerisch weiterentwickeln, wobei diese jedoch nicht in einem direkten Zusammenhang zu stehen scheinen. Damit addieren sich die Themen, die Bild und Text inhärent sind (Kritik an Markt und Vermarktung der Schriften selbst, aber auch der in ihnen getroffenen Vorhersagen, die als verkaufsanregend reißerisch entlarvt werden). Bereits auf der Titelseite wird damit eindeutig markiert, dass es sich um eine parodistische Version einer Praktik handeln muss.
Rezeptive Praktikparodien
Die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandenen ‚rezeptiven Praktikparodien‘ griffen hingegen die bereits bestehende Tradition der ‚genuinen Parodien‘ auf. Sie bearbeiteten und entwickelten das vorliegende Material weiter, kombinierten einzelne Bestandteile daraus neu und fügten eigene Elemente hinzu, sodass vollkommen selbstständige, singuläre Werke entstanden, die sozusagen als Parodien von Parodien gelten können. Während die genuinen Parodien den Praktiken noch ziemlich ähnlich waren, häufig gleich wie diese hießen, entfernten sich die rezeptiven Parodien immer weiter von den ursprünglichen Praktiken, wobei das astrologisch-prophetische Thema weiterhin ihre Grundlage bildete. Die Kritik, die in den genuinen Parodien an Umgang und Vermarktung mit und von Vorhersagen geübt wurde, fand sich weiterhin in den rezeptiven Parodien, doch scheint es, als würde die Freude am Neukompilieren, Unterminieren, Wortneuschöpfen usw. ebenjene Kritik in den Hintergrund rücken.
Zu dieser zweiten Welle gehört Johann Fischarts Aller Praktik Großmutter, die wohl als die bekannteste Praktikparodie gelten kann, zwischen 1572 und 1574 in drei Ausgaben in Straßburg bei Bernhard Jobin erschien und bis 1635 noch sechsmal aufgelegt wurde.[8]
Bereits der Titelholzschnitt zeigt deutlich das parodistische Potential des Werkes: Wir sehen zur Linken Saturn auf einem Ziegenbock hocken, gut erkennbar an seiner Sense. Rechts von ihm sitzt Venus mit ihrem Speer gemütlich auf einem zweirädrigen Wagen, zwischen ihren Beinen ein Krug, auf dem eine Gans sowie ein Affe mit Pfeil und Bogen platziert sind. Beide, Saturn und Venus, stellen offensichtlich Lasterplaneten und somit Parodien auf die Jahresregenten der Praktiken dar: Während ersterer untypischerweise faul auf dem Ziegenbock hängt, die ‚Bockigkeit‘ desselben sogar in seiner Haltung spiegelt, stellt die hier abgebildete Venus mit ihrem dicken Bauch offensichtlich die personifizierte Völlerei dar. Die um sie versammelten Tiere ‒ der mit dem Teufel assoziierte Bock, die dumme Gans und der lüsterne Affe, der zudem auf Amor anspielt ‒ verstärken diesen Eindruck. Tatsächlich symbolisieren Venus und Saturn gemeinsam mit den Tieren, deren Eigenschaften sie durch bildliche Nähe und Handauflegen übernehmen, gleichermaßen Faulheit, Wut, Wollust, Völlerei, Eitelkeit und Dummheit ‒ und decken somit gleich den Großteil der Todsünden ab.
Betrachten wir den Titeltext der Großmutter, wird deutlich, dass auch dieser von Anspielungen auf die ernsthaften Vorlagen gespickt ist, die dann jedoch spielerisch untergraben werden:
1 Aller Practick Großmůtter.
2 EJn dickgeprockte Newe
3 vnnd trewe / laurhaffte vnnd jmmer-
4 daurhaffte Procdick / auch possierliche / doch nit
5 verführliche Pruchnasticatz: sampt einer gecklichen vnd auff alle jar
6 gerechten Laßtaffeln: gestellet durch gůt duncken / oder gůt truncken des Stirn-
7 weisen H. Winbold Wůstblůt vom Nebelschiff / des Königs Artsus von
8 Landagrewel höchsten Himmelgaffenden Sterngauckler / Pracktick-
9 träumer vnd Kalender reimer: Sehr ein räß kurtzweilig
10 geläß / als wann man Haberstro äß.
[Holzschnitt]
11 Kumm kratzen vnd Brieffelegen / nach
12 laut der Pructick.
13 M. D. LXXII.
So verweist der Haupttitel einerseits durch die Nennung des Terminus Pracktik auf die Tradition der Praktiken und Praktikparodien,[9] jedoch wird zugleich deutlich, dass dieses Werk eine Sonderstellung für sich beansprucht: Als Großmůtter oder Ahnin [a]ller Practick (V. 1) behauptet der Titeltext, Archetyp der gesamten Tradition sowohl des astrologisch-prophetischen Schrifttums als auch der sich daraus entwickelnden Parodien zu sein. So lässt bereits der Haupttitel den spielerischen Ton durch die angedeutete Inversion der Genealogie erkennen (denn schließlich entsteht die Großmůtter erst in den 1570er Jahren, also deutlich nach Praktiken und genuinen Praktikparodien, will aber trotzdem ‚Großmutter‘ aller Praktiken sein; hier auch die persiflierende Anspielung auf die gebräuchliche Wendung ‚Mutter aller X‘). Doch nicht nur Würde und Weisheit, auch Hinweise auf Gebrechlichkeit, Nutzlosigkeit und Verfall schwingen in der Bezeichnung ‚Großmutter‘ mit, wie zeitgenössische Darstellungen verdeutlichen, in denen alte Frauen als Vngestalt (so die Inschrift), ja beinah Skeletten gleich, abgebildet werden (wüst und erkalt).
All diese positiven wie negativen Konnotationen werden so auf das Werk Fischarts übertragen, das sich mit dem Titel Großmutter schmückt. Somit bleibt der Haupttitel mehrdeutig: Traditionsverbundenheit und Altehrwürdiges bleiben ebenso bestehen wie Nutzlosigkeit, Abstoßendes und Verfall.
Ähnliches ist im restlichen Titeltext zu beobachten, der allerhand Anspielungen auf die Tradition der Praktiken integriert, die jedoch stets unterwandert und somit spielerisch geöffnet und bloßgestellt bleiben: Der höchste[] Himmelgaffende[] Sterngauckler / Practick-//traeumer vnd Kalender reimer (V. 8f.) führt zwar astrologische Begriffe an, die er jedoch durch geschickte Wortkombinationen entwertet. So betrachtet er den Himmel nicht wie ein gelehrter Sterndeuter, sondern begafft ihn, starrt also verwundert mit geöffnetem Mund hinauf; als ‚Sterngaukler‘ reißt er Possen, täuscht und fingiert; seine Praktik ist außerdem nicht berechnet und anhand astrologischer Beobachtungen erstellt, sondern schlicht und einfach erträumt und nach einem unsinnigen und ungleichmäßigen Reimmuster zusammengebastelt (Newe ‒ trewe, laurhaffte ‒ daurhaffte, possierliche ‒ verführliche, duncken ‒ truncken usf.; V. 2‒6).
Der Titeltext ist nur so überladen von kleinen Widersprüchen, Doppel- oder Mehrdeutigkeiten und sinnentstellenden Verfremdungen. Von der versprochenen Neuheit der Praktik, die zugleich immerzu gültig und auff alle jar gerechnet sein soll und sich darüber hinaus deutlich mit dem im Haupttitel durch den ‚Großmutter‘-Begriff suggerierten Alter des Textes beißt, bis hin zum Treuegelöbnis, das sogleich vom hinterhältigen Lauern untergraben wird. Diese Praktik ist nicht ernst zu nehmen, sondern possierlich[] und gecklich[], drollig-komisch, seltsam, närrisch. Der spielerische Umgang mit Sprache und semantischem Gehalt, insbesondere mit der Tradition des astrologisch-prophetischen Schrifttums wird darüber hinaus durch die zahlreichen Varianten des Wortes Praktik (Practick [V. 1; 8]; Procdick [V. 4]; Pructick [V. 15]) sowie die geschickten Einarbeitungen dieser Variationen in mehr oder weniger verständliche Neologismen (bspw. dickgeprockte [V. 2) verdeutlicht. Dadurch soll, wie der Titeltext weiterhin verspricht, ein räß kurtzweilig // geläß / als wann man Haberstro äß (V. 9f.) entstehen, eine Lektüre also, deren Unterhaltungswert heftig, stechend, scharf ist – genau so, als würde man Haferstroh essen. Auch wenn der Reiz dieses Leseversprechens fraglich bleibt, verdeutlicht der Titeltext doch, welcher Ansatz hinter der ‚Großmutter‘ steckt: Sie soll nicht ‚schmecken‘, nein, sie soll schwer zu kauen und noch schwerer zu verdauen sein, ja mehr noch: schlicht und einfach nicht nahrhaft, zumindest für einen Menschen. Die Qual, sich das Haferstroh – bzw. die Großmůtter – einzuverleiben und zu Gemüte zu führen, hat damit nicht einmal einen Nutzen, Sinn oder Vorteil. Doch gerade die Hervorhebung dieser Unbequemlichkeiten animieren zum Kauf, wodurch sich die Funktion des Verfassernamens mitsamt seinen Leistungsaufzählungen verkehrt, die üblicherweise Vertrauen erwecken, die Praktik legitimieren und verkaufsfördernd wirken sollen: Die Eigenschaften des Verfassers der ‚Großmutter‘, der sich freimütig als Wüstling, Trunkenbold und Faulenzer zu erkennen gibt, übertragen sich zugleich auf den Text, sodass dessen Parodiegehalt bereits deutlich am Titeltext abzulesen ist.
Bereits diese kurzen Analysen der Titelseiten der Praktiken, der genuinen und rezeptiven Praktikparodien zeigen, wie tiefschichtig und ambigue diese sind ‒ sowohl einzeln betrachtet als auch in ihrer Gesamtheit, als Reaktionskette aufeinander. Während den Praktiken noch recht leicht beizukommen ist, wird mit dem Schritt zunächst zu den genuinen und schließlich zu den rezeptiven Praktikparodien deutlich, wie voraussetzungsreich der Umgang mit ihnen und wie wichtig die Kenntnis der bereits existierenden Tradition ist. Diese Feststellung gilt sowohl für den Umgang mit dem Text- als auch mit dem Bildmaterial, die sowohl einzeln als auch in ihrem Zusammenspiel zahlreiche Bedeutungsebenen generieren, deren Bedeutung sich zugleich auf die ihnen folgenden Werke auswirkt.
Luca Lil Wirth ist seit Oktober 2021 sowohl Doktorandin der Friedrich Schlegel Graduierten Schule als auch wissenschaftliche Mitarbeiterin am EXC Temporal Communities, wo sie im Projekt Arts of Memory der Research Area 1 Competing Communities arbeitet. Ihr Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit dem Obszönen in der Literatur der Frühen Neuzeit und untersucht u. a. am Beispiel von Michael Lindeners Schwanksammlung Katzipori (1558) Figuren und Handlungen, die nicht der Norm entsprechen, die irritieren, grotesk, skurril, manchmal wunderbar sind oder sich am Rande des Wahnsinns bewegen.
[1] Vgl. Pfister, Silvia: Parodien astrologisch-prophetischen Schrifttums 1470‒1590. Textform ‒ Entstehung ‒ Vermittlung ‒ Funktion. Baden-Baden 1990 (Seacvla spiritalia 22), S. 15.
[2] Vgl. ebd., S. 134.
[3] Der Begriff Parodie, der erst im 17. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt wird (vgl. [Art.] Parodie, in: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache.Berlin 62020, S. 609), wird in der Frühen Neuzeit (noch) nicht verwendet. Als zeitgenössische Bezeichnungen für den Komplex der unterhaltsam-erheiternden Literatur führt Pfister ars iocandi bzw. schimpf und ernst an und weist darauf hin, dass im Zusammenhang damit die Begriffe ‚scherzhaft‘ und ‚grotesk‘ gebraucht werden. In Ermangelung eines besseren Begriffs entscheidet sie sich trotzdem dafür, den Parodie-Begriff zu verwenden (vgl. Pfister, Parodien [wie Anm. 1], S. 59‒60). Auf Grundlage dieser kritischen Reflexion wird auch im Folgenden von Parodien die Rede sein.
[4] Vgl. Pfister, Parodien (wie Anm. 1), S. 59.
[5] Vgl. ebd., S. 88‒95.
[6] So sagt Johannes Carion (1499‒1537), ein Schüler Stöfflers, in seiner Prognostication und erklerung der großen wesserung von 1521 ein grosses blutuorgiessen[ ] des Christe-//liche[n] volckes, vn nidertruckung grosser heupt vorher (online verfügbar unter https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11216313?page=14; zuletzt aufgerufen am 26.01.2023).
[7] Ich folge bei der Einteilung und bei der folgenden Benennung Pfister, Parodien (wie Anm. 1), der bisher einzigen umfangreichen Untersuchung zu frühneuzeitlichen Praktiken und Praktikparodien, ihrer Entwicklung und ihrem Aufbau.
[8] Johann Fischart: Aller Praktik Großmutter [Druck A]. Straßburg: Bernhard Jobin 1572. Online verfügbar unter: https://digital.onb.ac.at/OnbViewer/viewer.faces?doc=ABO_%2BZ164736707; zuletzt aufgerufen am 26.01.2023; ders.: Aller Praktik Großmutter [Druck C]. Straßburg: Bernhard Jobin 1574. Online verfügbar unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN861236793&PHYSID=PHYS_0005; zuletzt aufgerufen am 26.01.2023.
[9] Vgl. Pfister, Parodien (wie Anm. 1), S. 104–108.